Auf der Flucht

Unabhängig davon, wie die Vorfälle aus rechtlicher Sicht zu bewerten wären, für Johann Rosenmüller bedeuten sie einen tiefen Einschnitt. Er, der so lange im Rampenlicht stand, wird über Nacht zur Unperson und führt fortan ein Leben im Dunkeln, abseits der großen Bühnen. Wie undurchdringlich dieses Dunkel ist, lässt sich daran ermessen, dass für die nächsten fast drei Jahrzehnte nur eine Handvoll Hinweise auf sein Leben und Wirken existieren. Und – so scheint es – über den einstigen Star nur mehr hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.

Anekdotisch ist überliefert, dass Rosenmüller zunächst nach Hamburg flieht1 und dort bis zu zwei Jahre zubringt, bevor er schließlich nach Venedig weiterzieht. Ein neuerer Brieffund legt hingegen nahe, dass der Flüchtige bereits 1655 in Italien eintrifft und sich sofort daran macht, eine neue (musikalische) Existenz aufzubauen. Kontakte und Netzwerke aus Zeiten seines Studienaufenthaltes mögen ihm dabei behilflich gewesen sein. Im genannten Brief, verfasst 1659 vom Leipziger Professor Leonhard Beer, ist jedoch auch zu lesen, dass Rosenmüller kontinuierlich Möglichkeiten einer Rückkehr nach Leipzig auslotet. Mutmaßlich in dieser Absicht schickt er über einen Mittelsmann sogar neu komponierte Werke an die Pleiße, die dann, so berichtet Beer, im August 1659 tatsächlich zur Aufführung gelangen sollten. Welche Werke dies waren, ob sie von studentischen Musikern oder gar unter Leitung von Thomaskantor Knüpfer musiziert wurden, bleibt offen. Ebenso offen bleibt, ob Rosenmüller im Jahr 1660 (oder später) im Gefolge Francesco Cavallis (1602-1676) an den französischen Königshof reist, um an den Hochzeitsfeierlichkeiten Ludwig XIV. mitzuwirken. Entsprechende Überlegungen des Geflohenen deutet Beer in seinem Brief an. Sicher hingegen ist der ungebrochene Schaffensdrang Rosenmüllers. Die weit über 100 handschriftlich überlieferten (meist lateinischen) Werke dürften zum größten Teil ab den 1660er Jahren in Venedig entstanden sein. Und die Nachfrage nach seinen Kompositionen scheint vor allem im Ausland groß zu sein. Zeugnis dafür sind die vielfältigen Verbindungen zwischen Rosenmüller und insbesondere mittel- und norddeutschen Fürstenhöfen. Gut möglich, wie auch Peter Wollny annimmt, dass der Komponist meist im Auftrag (zahlungskräftiger) deutscher Potentaten tätig war. Dafür spricht auch, dass in italienischen Archiven bis heute nicht eine einzige Rosenmüller-Note auffindbar ist. Und ebenso dürften die einzig bisher nachgewiesenen Anstellungen – als Posaunist an San Marco und später als maestro di coro am Ospedale della Pietà – für ein auskömmliches Leben in der Lagunenstadt nicht ausgereicht haben.

Erst im Jahr 2019 veröffentlichte Forschungsergebnisse2 deuten an, dass Rosenmüller die Oper nicht nur intensiv studierte, sondern selbst auch an Opernaufführungen mitwirkte und zwar vermutlich am Teatro San Luca unweit des deutschen Handelszentrums an der Rialto-Brücke. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich auch die Kirche San Salvatore, in der der Komponist im Jahr 1672 – testatmentarisch beauftragt – einen Trauergottesdienst für den Uhrmacher Bortole Vite musikalisch gestaltet.3 Ob Rosenmüller selbst Opern(teile) komponierte, muss mangels Belegen bis auf weiteres offen bleiben. Jedoch ist davon auszugehen, dass der Komponist, der in den 1650er Jahren als erster ein größeres Singspiel in Leipzig aufführte, sich auch in diesem Genre versuchte.

Für die Musikgeschichte war Rosenmüllers Flucht nach Venedig ein Glücksfall. Hier lebt der Komponist in einem Klima, wie es inspirierender nicht sein könnte. Neben den Werken Monteverdis, die er weiter fleißig studiert, beschäftigt er sich zunehmend mit der Oper Cavallis und adaptiert deren Prinzipien für seine kirchenmusikalischen Werke. Viele seiner großdimensionierten Psalmkonzerte tragen hinsichtlich ihrer Disposition und Faktur stark musikdramatische Züge. Doch bei aller Farbigkeit und Frische, die die Werke dieser Schaffensperiode auszeichnen, bleibt Rosenmüller stets auch der meisterhafte Satztechniker und Kontrapunktiker Schütz’scher Prägung. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies in den perfekt gearbeiteten, majestätischen Schlussfugen seiner Psalmvertonungen, die sicher auch sein einstiger Mentor zu schätzen gewusst hätte. Fragt man also nach dem Besonderen der venezianischen Werke Rosenmüllers, so könnte man formulieren, dass er in diesen einen Stil verwirklicht, der Würde und Sinnlichkeit vereint und den Tonschöpfungen damit größte existenzielle Wucht verleiht.

1 s.o.

2 Roberts, John. Rosenmüller in Italy. Traces of a shadowy life. In: Händel-Jahrbuch 2019, S. 169 ff.

3 ASV, Archivio notarile, testamenti, b. 871 Biasio Reggia, #29 adi 4 ottobre 1672 , Testament von Bortolo(mei) Vite

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