Rasanter Ausfstieg

Anekdotisch berichtet der Göttinger Geschichtsprofessor Joachim Meyer (1661-1732), dass der Zittauer Kantor Andreas Hammerschmidt (1611-1675) um das Jahr 1650 „zur Meßzeit“ nach Leipzig gekommen und im „dasigen Stadtkeller“ Johann Rosenmüller (1617/191-1684) begegnet sei. Im Verlauf eines angeregten Gesprächs habe Hammerschmidt – ohne zunächst seine Identität preis zu geben – Rosenmüller gefragt, „was dieser denn von des Andreas Hammerschmidts in Zittau Composition hielte„. Das überlieferte Urteil Rosenmüllers ist eindeutig – und harsch: „Es wäre derselbe ein Clausulen Dieb und wenn er [Hammerschmidt] ihm die Manier und die Clausulen [Klauseln] nicht abstöhle, würde er nichts machen können„. Hammerschmidt reagiert darauf nachvollziehbar säuerlich, es kommt zum Streit, sogar zu Handgreiflichkeiten und die beiden müssen mühsam von Umstehenden beruhigt werden.2

Freilich ist bei diesem Bericht von einer Pointierung auszugehen. Aber was für ein Selbstbewusstsein, ja welche Chuzpe, spricht aus der Reaktion Rosenmüllers (die im Kern wohl den Tatsachen entspricht)! Und unmittelbar stellt sich die Frage: Ist dessen hohe Meinung von der eigenen Kunst tatsächlich gerechtfertigt – und worauf gründet sie sich überhaupt?

Als der in Oelsnitz/Vogtland geborene Johann Rosenmüller im Jahr 1640 an der Leipziger Universität ein Theologiestudium aufnimmt3, ist dieser Weg jedenfalls nicht abzusehen. Ja, ob sich der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges aufwachsende Vogtländer bis zu seiner Ankunft an der Pleiße überhaupt nennenswert musikalisch betätigt, ist längst nicht sicher. Einen einzigen knappen Hinweis finden wir in der Vorrede seiner ersten Druckpublikation4. Dort schreibt Rosenmüller, dass die „prima fundamenta musices“ in seiner Heimatstadt gelegt worden seien. Weitere musikalische Frühspuren haben sich jedoch bisher nicht finden lassen.

Die Entwicklung nimmt jedoch ihren Lauf, als Rosenmüller 1642 durch die Anstellung als Hilfslehrer an der Thomasschule in ein anregendes musikalisch-akademisches Umfeld und insbesondere unter den Einfluss von Thomaskantor Tobias Michael (1592-1657) gelangt. Von Michael erhält Rosenmüller künstlerische Impulse, die einen ersten – noch etwas ungestümen – Schaffensdrang auslösen. Ergebnis dessen und erster kompositorischer Fingerzeig ist die bereits erwähnte Sammlung instrumentaler Tanzsätze aus dem Jahr 1645.

Dabei ist es nicht so sehr die musikalische Substanz der Sammlung, die aufhorchen lässt – die Faktur der Sätze ist denkbar einfach, das verwendete Suiten-Modell längst bekannt5 – sondern die Aufmerksamkeit die der Druck erhält. So übersendet kein geringerer als der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672) ein eigens dafür verfasstes Lobgedicht aus der sächsischen Residenzstadt. Mit barockem Pathos, jedoch voller ehrlicher Wertschätzung heißt es darin6:

So fahre fort, mein Freund, obgleich die Dornen stechen
der edlen Music Kunst die Rosen abzubrechen,
ja fahre fort noch mehr zu sammeln ihrer ein
ich sehe Floram schon auffwärtig dir zu sein
und einen Ehrenkranz mit ihrer Hand zu winden
der nicht verwelcken wird, den kein Neid wird auffbinden
dass deines Namens Ruhm in Deutschland bald angehn
durch Famam ausgebreit und löblich wird bestehn.
Überschickt aus Dreßden von
Heinrich Schützen, Capellmeistern

Da staunt man nicht schlecht und fragt sich, was den „Vater der modernen deutschen Musik“ dazu bewogen haben mag, das handwerklich solide, aber künstlerisch wenig spektakuläre Opus mit solchen Zeilen zu adeln. Und es ist beileibe nicht nur Schütz, der sich zum Fürsprecher der Rosenmüllerschen Sache macht: vier Druckseiten voller epigrammatischer Hochachtung vom Who is Who des kulturellen Leipzigs kann der junge Musikus versammeln!7 Dieser allgemeine Überschwang ist nur erklärlich, wenn man davon ausgeht, dass bei Drucklegung im Oktober 1645 bereits ungleich reifere und zukunftsweisendere Werke Rosenmüllers bekannt gewesen sein müssen.8

Und in der Tat spricht einiges dafür, dass die Karriere des Jungkomponisten im Jahr 1645 einen entscheidenden Schub erhält. Ab dieser Zeit verantwortet Rosenmüller, wie Michael Maul nachgewiesen hat9, die Kirchenmusik für die hohen Festtage an der Leipziger Paulinerkirche (Universitätskirche). Er agiert damit de facto als Universitätsmusikdirektor, möglicherweise anfangs in Vertretung des seit langem gichtkranken Tobias Michael. Solchermaßen exponiert, steigt Rosenmüllers Ansehen in weiten Kreisen der Stadt und damit auch die Nachfrage nach seinen Kompositionen. Beleg dafür ist das erste erhaltene Gelegenheitswerk aus seiner Feder, eine ausladende Hochzeitsmusik für den schwedischen General Douglas, die im November 1645 unter Rosenmüllers Leitung zur Aufführung kommt.10

Als folgenreichstes Ereignis jenes Jahres erweist sich allerdings die Begegnung mit und beginnende Förderung durch Heinrich Schütz.11 Erst mit dem großen Kapellmeister als Mentor erlangt Rosenmüller jene satztechnische Meisterschaft, die sein Werk ab den späten 1640er Jahren auszeichnet. Und angeregt insbesondere durch die Symphoniae Sacrae seines väterlichen Förderers beginnt Rosenmüller, sich mit dem für ihn so prägenden italienischen Konzertstil auseinander zu setzen.

Um diesen Stil gründlich zu studieren, bricht Johann Rosenmüller Ende 1645 zu dessen Quellen auf. Über seine Abreise nach Italien sind wir genau informiert, denn es existiert ein Eintrag im Protokollband des Collegium Gellianum12 für den 1. Advent 1645, in dem es heißt: „(…) gratiam Collegii nostri a Rosemullero [sic!], suavissimo melopoeta compositum, antequam is abiret in Jtaliam13.“ Neben der genauen Datierung ist vor allem interessant, dass der Protokollant den Komponisten einen „suavissimo melopoeta compositum“ nennt. Bereits in dieser frühen Wirkungszeit gilt also der liebliche Ton als das unverwechselbare Markenzeichen Rosenmüllers.

Aus späteren Quellen wissen wir, dass die Studienreise den jungen Komponisten (auch) nach Venedig führt, wo er ganz in das pulsierende Musikleben der Lagunenstadt eintaucht. Neben den Concerto-Modellen der venezianischen Meister widmet er sich vor allem dem Madrigalstil des eben erst verstorbenen Claudio Monteverdi (1567-1643). Dessen harmonischer Reichtum und „bildhafte und bewegliche Textbehandlung“ (Peter Wollny) üben einen großen Reiz auf den nach Innovation drängenden Komponisten aus. Reich bepackt mit Erfahrungen (und sicher auch Musikalien), kehrt Rosenmüller im Sommer 1646 nach Leipzig zurück und beginnt unmittelbar, die erlernten Prinzipien für seine Kompositionen fruchtbar zu machen.

Ein erster Ertrag der nachvenezianischen Phase sind die Kern-Sprüche mehrenteils aus Heiliger Schrift, die Rosenmüller im Jahr 1648 vorlegt (ein zweiter Teil wird 1652/53 folgen). Die gedruckte Sammlung enthält unterschiedlich besetzte und dimensionierte Vokalkonzerte auf Bibeltexte und freie Dichtung. Rosenmüller demonstriert darin seine erworbenen kontrapunktischen Fähigkeiten und erkundet gleichzeitig neue Klangräume und Dispositionen. Die Instrumente werden in den größer angelegten Werken bereits mit einiger Eigenständigkeit geführt. Zwar dienen die instrumentalen Anteile noch vorwiegend der Strukturierung (Sinfonia, Ritornell, motivische Antwort), jedoch finden sich immer wieder auch Passagen, in denen Rosenmüller die Instrumentalstimmen in das imitative Geflecht mit einbezieht – und damit den Satz verdichtet – oder zur Klangveredelung als fröhlich figurierende Oberstimmen setzt.

Aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen soll auf das handschriftlich überlieferte Konzert Fürchte dich nicht, denn ich hab dich erlöst, hingewiesen werden. Von allen Kompositionen Rosenmüllers ist es vielleicht das modernste, ganz sicher aber eines der zeitlosesten Werke. Hiervon zeugt auch das wertschätzende Urteil Johann Matthesons. Im Jahr 1739, nahezu ein Jahrhundert nach seiner Entstehung (!), führt der Hamburger Musiktheoretiker die Komposition in seinem Vollkommenen Capellmeister an und beschreibt deren Eingangssinfonia mit folgenden Worten14:

„Ich kann mich nicht entbrechen, bey diesem reinen, fünfstimmigen Satze die schöne Singart in jeder besonderen Stimme zu bewundern. Die Ober-Partie könnte schwerlich besser einhergehen, wenn sie auch als Solo dastünde. Die zwote hat absonderlich in den letzten Takten so viel artiges und modernes, als wenn sie diesen Tag erst verfertiget, und ohne die geringste Absicht auf die übrigen vier zu Papier gebracht worden; da sie doch über 50 Jahre alt ist. Nichts aber kann eine angenehmere und beweglichere Melodie führen, als hier der Alt tut. (…) Was endlich den Tenor und Bass betrifft, so zeiget ihre freundliche Gegenbewegung die größte Bescheidenheit an, so man verlangen mag, ohne Zwang, Verbrämung und Künsteley, ganz natürlich, gar nicht hölzern. Hier mögte man zu manchem sagen: Gehe hin und tue desgleichen!“

Es sind Werke wie dieses, die Johann Rosenmüllers kometenhaften Aufstieg begründen. Wie sehr man ihn in Leipzig schätzt, zeigt auch die Tatsache, dass der Rat der Stadt im Dezember 1653 dem Komponisten sogar schriftlich die Anwartschaft auf das Thomaskantorat zusichert, sollte Tobias Michael dahinscheiden oder sein Amt niederlegen. Doch auch über die Stadtgrenzen hinaus schätzt man die Qualitäten des Meisters. Als 1654 ein Nachfolger für das vakante Dresdner Kreuzkantorat gesucht wird, heißt es in einem vom Stadtrat beauftragten Gutachten, „daß [sich] eine qualificirtere Persohn in Dirigirung des Musicalischen Chors, Componiren und andern, was zu eines Cantoris Ambt gehörig schwerlich in Leipzigk, Dresden und andernorts finden würde.“

Rosenmüllers eingangs kolportiertes Selbstbild jener Jahre scheint also exakt die öffentliche Meinung zu reflektieren.

1 Das Geburtsjahr Rosenmüllers ist nicht eindeutig bestimmbar. In der Forschung werden derzeit zwei Hypothesen diskutiert: zum einen vom Todesjahr des Komponisten rückgerechnet die 13 Lustren (ca. 65 Jahre), die das Epitaph von 1684 nennt. Zum anderen Rosenmüllers mutmaßliches Erreichen des kleinen Stufenjahrs (=35. Geburtstag) im Jahr 1652, auf das ein gedrucktes Gedicht hinzudeuten scheint.

2 nach: MEYER, J. Der anmaßliche Hamburgische Criticus sine Crisi (1728), S. 25f.

3 Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig (1559-1809), 2; UB Leipzig, Sig. AL 16149 M43-2

4 Paduanen, Alemanden, Couranten etc. (Leipzig, 1645)

5 Rosenmüller schreibt in der Vorrede, dass er die Sätze ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen hatte und nur auf inständiges Begehren vieler Freunde zum Druck gab.

6 Übertragungen aus den Quellen durch den Verfasser, sofern nicht anders angegeben

7 Darunter Thomaskantor Tobias Michael, der Rosenmüller „Amicum suum dilectissimum“ nennt, Rosenmüllers (Dichter-) Freund Caspar Ziegler, verschiedene Leipziger Gelehrte und Ratsmänner

8 Hier ist etwa an frühe Evangeliendialoge Rosenmüllers zu denken (z.B. Es waren Hirten auf dem Felde), die Peter Wollny in diese Schaffensphase datiert.

9 MAUL, M. Musik und Musikpflege in Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg (2001). Magisterarbeit. ungedruckt

10 Es muß dir, wertes Paar à 9 (Leipzig, 1645), S-Uu ms. 41:6

11 Schütz trifft Rosenmüller vermutlich erstmals auf der Rückreise von Kopenhagen / Braunschweig im Mai 1645 in Leipzig und wohnt vielleicht sogar einem Gottesdienst unter Rosenmüllers musikalischer Leitung bei.

12 Eine Leipziger Gelehrtengesellschaft, bei deren Zusammenkünften Rosenmüller gelegentlich musikalisch in Erscheinung tritt.

13 Übertragung: „(…) Dank an Rosenmüller, den Erfinder der lieblichsten Melodien, bevor er nach Italien ging.“

14 MATTHESON, J. Der vollkommene Capellmeister (1739), S. 85

Tiefer Fall

Die öffentliche Meinung ändert sich freilich schlagartig, als Johann Rosenmüller im Frühjahr 1655 aller Ämter enthoben wird und Hals über Kopf aus Leipzig flieht. Was war geschehen?

In den Archiven ist nur wenig Konkretes über den Fall zu finden, die Quellen sind erstaunlich schweigsam. Nur allgemein werden in zwei Ratsprotokollen das „von Johann Rosenmüllern bei dieser Stadt erschollene böse Geschrei“ und der „wegen einer Verbrechung flüchtige Johann Rosenmüller“1 erwähnt. Wessen Johann Rosenmüller konkret bezichtigt wird, steht dort nicht. Eine einzige zeitgenössische Quelle gibt genauer Auskunft zu den Anschuldigungen2. Es handelt sich bei diesem Dokument um einen Briefauszug, den ein Dresdner Kanzleikopist im Mai 1655 aus einem offenbar anonym aus Leipzig übersandten Schreiben erstellte. Darin heißt es, dass der Musicus Rosenmüller „der sodomitischen Knabenschänderei“ mit Thomasschülern verdächtig und wohl nach Italien geflohen sei. Unter „Sodomiterei“ wurden in jener Zeit alle nicht-heterosexuellen Beziehung zusammengefasst, also z.B. Homosexualität, sexuelle Handlungen an Tieren und auch Pädophilie. Der Fall scheint somit klar: Johann Rosenmüller hat seine Schüler sexuell missbraucht.

  • Und er ist es dennoch nicht. Denn im erwähnten Briefauszug wird auch mitgeteilt, dass Briefe der Schüler entdeckt wurden, in denen jene sich verabredet hätten „eben diese Sodomiterei miteinander zu begehen“. Und mehr noch: Sechs Schüler seien danach inhaftiert und zur Sache vernommen worden. Dies zusammengenommen mit der Tatsache, dass viele Thomasschüler im 17. Jahrhundert zwischen 17 und 20, ja einige bis zu 23 Jahren waren (und altersunabhängig als Knaben bezeichnet wurden3), lässt auch die Deutung zu, dass es sich bei dem „Delikt“ um homoerotische Beziehungen zwischen (jungen) Männern handelte, was in der Moral der Zeit aber eben als nicht weniger verwerflich galt.

1 Akten E.E. Raths der Stadt Leipzig, Stadtarchiv Leipzig (Signatur nicht greifbar)

2 Der Extract liegt dem Verfasser als Faksimile vor.

3 Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird explizit auf die Leipziger Thomasschulordnung von 1723 verwiesen, in welcher festgelegt ist, dass „alle schüler knaben genannt, schulknaben (lat. pueri), mit einschlusz der primaner, d. h. der alte ausdruck blieb in amtlicher rede länger bewahrt.

Auf der Flucht

Unabhängig davon, wie die Vorfälle aus rechtlicher Sicht zu bewerten wären, für Johann Rosenmüller bedeuten sie einen tiefen Einschnitt. Er, der so lange im Rampenlicht stand, wird über Nacht zur Unperson und führt fortan ein Leben im Dunkeln, abseits der großen Bühnen. Wie undurchdringlich dieses Dunkel ist, lässt sich daran ermessen, dass für die nächsten fast drei Jahrzehnte nur eine Handvoll Hinweise auf sein Leben und Wirken existieren. Und – so scheint es – über den einstigen Star nur mehr hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.

Anekdotisch ist überliefert, dass Rosenmüller zunächst nach Hamburg flieht1 und dort bis zu zwei Jahre zubringt, bevor er schließlich nach Venedig weiterzieht. Ein neuerer Brieffund legt hingegen nahe, dass der Flüchtige bereits 1655 in Italien eintrifft und sich sofort daran macht, eine neue (musikalische) Existenz aufzubauen. Kontakte und Netzwerke aus Zeiten seines Studienaufenthaltes mögen ihm dabei behilflich gewesen sein. Im genannten Brief, verfasst 1659 vom Leipziger Professor Leonhard Beer, ist jedoch auch zu lesen, dass Rosenmüller kontinuierlich Möglichkeiten einer Rückkehr nach Leipzig auslotet. Mutmaßlich in dieser Absicht schickt er über einen Mittelsmann sogar neu komponierte Werke an die Pleiße, die dann, so berichtet Beer, im August 1659 tatsächlich zur Aufführung gelangen sollten. Welche Werke dies waren, ob sie von studentischen Musikern oder gar unter Leitung von Thomaskantor Knüpfer musiziert wurden, bleibt offen. Ebenso offen bleibt, ob Rosenmüller im Jahr 1660 (oder später) im Gefolge Francesco Cavallis (1602-1676) an den französischen Königshof reist, um an den Hochzeitsfeierlichkeiten Ludwig XIV. mitzuwirken. Entsprechende Überlegungen des Geflohenen deutet Beer in seinem Brief an. Sicher hingegen ist der ungebrochene Schaffensdrang Rosenmüllers. Die weit über 100 handschriftlich überlieferten (meist lateinischen) Werke dürften zum größten Teil ab den 1660er Jahren in Venedig entstanden sein. Und die Nachfrage nach seinen Kompositionen scheint vor allem im Ausland groß zu sein. Zeugnis dafür sind die vielfältigen Verbindungen zwischen Rosenmüller und insbesondere mittel- und norddeutschen Fürstenhöfen. Gut möglich, wie auch Peter Wollny annimmt, dass der Komponist meist im Auftrag (zahlungskräftiger) deutscher Potentaten tätig war. Dafür spricht auch, dass in italienischen Archiven bis heute nicht eine einzige Rosenmüller-Note auffindbar ist. Und ebenso dürften die einzig bisher nachgewiesenen Anstellungen – als Posaunist an San Marco und später als maestro di coro am Ospedale della Pietà – für ein auskömmliches Leben in der Lagunenstadt nicht ausgereicht haben.

Erst im Jahr 2019 veröffentlichte Forschungsergebnisse2 deuten an, dass Rosenmüller die Oper nicht nur intensiv studierte, sondern selbst auch an Opernaufführungen mitwirkte und zwar vermutlich am Teatro San Luca unweit des deutschen Handelszentrums an der Rialto-Brücke. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich auch die Kirche San Salvatore, in der der Komponist im Jahr 1672 – testatmentarisch beauftragt – einen Trauergottesdienst für den Uhrmacher Bortole Vite musikalisch gestaltet.3 Ob Rosenmüller selbst Opern(teile) komponierte, muss mangels Belegen bis auf weiteres offen bleiben. Jedoch ist davon auszugehen, dass der Komponist, der in den 1650er Jahren als erster ein größeres Singspiel in Leipzig aufführte, sich auch in diesem Genre versuchte.

Für die Musikgeschichte war Rosenmüllers Flucht nach Venedig ein Glücksfall. Hier lebt der Komponist in einem Klima, wie es inspirierender nicht sein könnte. Neben den Werken Monteverdis, die er weiter fleißig studiert, beschäftigt er sich zunehmend mit der Oper Cavallis und adaptiert deren Prinzipien für seine kirchenmusikalischen Werke. Viele seiner großdimensionierten Psalmkonzerte tragen hinsichtlich ihrer Disposition und Faktur stark musikdramatische Züge. Doch bei aller Farbigkeit und Frische, die die Werke dieser Schaffensperiode auszeichnen, bleibt Rosenmüller stets auch der meisterhafte Satztechniker und Kontrapunktiker Schütz’scher Prägung. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies in den perfekt gearbeiteten, majestätischen Schlussfugen seiner Psalmvertonungen, die sicher auch sein einstiger Mentor zu schätzen gewusst hätte. Fragt man also nach dem Besonderen der venezianischen Werke Rosenmüllers, so könnte man formulieren, dass er in diesen einen Stil verwirklicht, der Würde und Sinnlichkeit vereint und den Tonschöpfungen damit größte existenzielle Wucht verleiht.

1 s.o.

2 Roberts, John. Rosenmüller in Italy. Traces of a shadowy life. In: Händel-Jahrbuch 2019, S. 169 ff.

3 ASV, Archivio notarile, testamenti, b. 871 Biasio Reggia, #29 adi 4 ottobre 1672 , Testament von Bortolo(mei) Vite

Späte Rückkehr

Die seit den 1660er Jahren gewachsenen Verbindungen Rosenmüllers zum Welfenhof (Hannover, Braunschweig-Lüneburg) ermöglichen dem Komponisten eine späte Rückkehr nach Deutschland. Eine offizielle Rehabilitation hat es nie gegeben, dennoch verpflichtet Herzog Anton Ulrich den inzwischen 65-Jährigen als Kapellmeister nach Wolfenbüttel. Offenbar soll Rosenmüller dessen Hofkapelle neu einrichten und sich auch dem Aufbau der Oper widmen. Eine große Wirkung scheint Rosenmüller indes dort nicht mehr zu entfalten, denn außer einem Opernlibretto, für das er mutmaßlich die Musik liefert, ist nichts aus dieser Zeit erhalten. Ob der Herzog sich insgeheim mehr von seinem Kapellmeister erhoffte oder ob er ihm mit diesem Amt eine persönliche Rehabilitation (für die langjährige Versorgung mit vorzüglichen Kompositionen?) zuteilwerden lassen wollte, ist nicht zu klären.

Johann Rosenmüller stirbt in den ersten Septembertagen des Jahres 1684 – und die Sicht auf ihn bleibt auch im Tod ambivalent. Denn zwar scheint es keine großangelegten offiziellen Trauerfeierlichkeiten gegeben zu haben, jedoch existiert noch heute das prächtige Epitaph eines anonymen Stifters, das den Komponisten leidenschaftlich für das würdigt, woran nie ein Makel haftete: seine Musik.

Johann Rosenmüller – der Amphion1 seines Jahrhunderts

(…)
Darum weh! wird dürr der durch den Südwind verheerte Rosengarten!
Jene süße, herzrührende und rosige Weise ist verklungen.
Der Mühle ist Ruhe verkündet! Schweiget!
Erloschen ist die Leuchte, die weit über Europa hin strahlte!
Weine! Weine Wanderer!
Doch mit Maß. Nicht ganz ist er der Totengöttin anheimgefallen.
In seinem edleren Teil lebt er ewig, die Krone der Musik.
(…)

1 Figur aus der griech. Mythologie, magischer Musiker, der Theben mit den Melodien seiner Lyra aufgebaut haben soll. Möglicherweise hatte Amphion ein homoerotisches Verhältnis zu Hermes.

Willkommen, Bach!

Die Vorgänger im Amt des Thomaskantorats machen dem neuen Thomaskantor ihr Aufwartung! Zusammen mit der Jugendmusiziergruppe „Michael Praetorius“, der Kantorei und der großen Kurrende der Singschule St. Thomas, dem Thomanernachwuchschor der Klasse 3 des forum thomanum, dem GewandhausChor und Thomasorganist Johannes Lang musiziert Ensemble 1684 Musik von Bachs Vorgängern und einem Stellvertreter im Amt! Es erklingt Musik von Johann Hermann Schein, Johann Rosenmüller, Sebastian Knüpfer, Johann Schelle, Johann Kuhnau und natürlich von Johann Sebastian Bach!

Entsetze dich, Natur

Schelle: Also hat Gott die Welt geliebet / Nun lob, mein Seel, den Herren | CCATB, Streicher, Zinken, Fagott/Dulzian & Continuo
Rosenmüller: Christus ist mein Leben | CCATB, Streicher & Continuo
Rosenmüller: Entsetze dich, Natur | CCATTB, Violinen, Zinken, Posaunen & Continuo
Schelle: Gott, sende dein Licht | CATB, Streicher & Continuo
Rosenmüller: Nun danket alle Gott | CCATTB, Violinen, Posaunen & Continuo
Rosenmüller: Die Gnade unsers Herren Jesu Christi | CATB & Continuo
Rosenmüller: Magnificat | CATB-CATB, Zinken, Posaunen, Streicher & Continuo
Rosenmüller: Also hat Gott die Welt geliebet | CATB, Streicher, Zinken, Posaunen & Continuo

Gott, sende Dein Licht

Heinrich Schütz (1585-1672) -Lobe den Herren, meine Seele
CATB-CATB, Streicher & Continuo

Johann Rosenmüller (1617/9-1684) – Christus ist mein Leben
CCATB, Streicher & Continuo

Johann Rosenmüller – Ego te laudo
CCB Solo & Continuo

Johann Rosenmüller – Confitebor tibi, Domine
CATB, Streicher & Continuo

Johann Rosenmüller – Fürchte dich nicht
CCATB, Streicher & Continuo

Johann Rosenmüller – Sonata duodecima (Nürnberg, 1682)
Streicher & Continuo

Johann Schelle (1648-1701) – Gott, sende dein Licht
CATB, Streicher & Continuo

Johann Rosenmüller – Bleibe bei uns, denn es will Abend werden
CCATB, Streicher & Continuo

Weihnachtshistorie und Vespermusik

Magnificat anima mea Dominum | Johann Rosenmüller (1617-1684)
Weihnachtshistorie | Heinrich Schütz (1585-1672)
Laudate Dominum omnes gentes | Johann Rosenmüller

Geschützt: Minden

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Geschützt: Kannawurf 2018

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Geschützt: Fürth

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Geschützt: Linz

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Geschützt: Blaubeuren

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